Es war an einem heißen Sommertag in Tokio, und ich erwartete Meister Kenran Umeji, meinen Lehrer im Bogenschießen. Einige Wochen hatte ich für mich allein geübt und freute mich darauf, dem Meister zu zeigen, dass ich meine Lektion gelernt hatte. Ich war gespannt, welche Überraschung die heutige Stunde bringen würde; denn jedes mal hatte es, wenn der Meister kam, eine Überraschung gegeben.
Das Erlernen einer japanischen Kunst – handle es sich nun um das Bogenschießen oder das Schwertfechten, das Blumenstecken oder Malen, das Schreiben der Schriftzeichen oder die Kunst des Tees – ist voller Seltsamkeiten für Schüler aus dem Westen. Wer zum Beispiel beim Bogenschießen meint, es käme aufs Treffen an, ist in einem Irrtum befangen. Worauf soll es denn sonst ankommen? Nun -darüber sollte ich heute wiederum sehr eindringlich belehrt werden.
Der Meister erschien zur verabredeten Stunde – ein kurzes Gespräch bei einer Tasse Tee, und dann ging es in den Garten, wo die Scheibe stand. Mit dieser Scheibe war die erste Überraschung verknüpft, die ich gleich zu Beginn mit dem Bogenschießen erfahren hatte: Es war ein Strohbündel von etwa 80 cm Durchmesser, in Augenhöhe auf ein Holzgestell gelegt, und man kann sich vorstellen, dass ich nicht wenig verwundert war, als ich hörte, dass der Schüler im Bogenschießen erst einmal drei Jahre an dieser Scheibe zu üben hat und zwar auf eine Entfernung von drei Metern! Drei Jahre auf drei Meter Entfernung auf ein Strohbündel von 80 cm Durchmesser schießen? Wird das nicht langweilig? Nein, im Gegenteil! Es wird, je mehr man in den Sinn der Übung eindringt, von Tag zu Tag aufregender; denn es kommt gar nicht aufs Treffen an -sondern auf die innere Haltung und durch sie auf das Voranschreiten auf dem inneren Weg.

Ich trete also an. Der Meister steht vor mir. Ich verbeuge mich, wie es die Sitte gebietet, erst vor dem Meister, dann, mit einer Linksbewegung, vor der Scheibe, nehme wieder Front zum Meister hin und vollziehe ruhig die ersten Bewegungen. In gelassenem Fluss muss eine Bewegung aus der anderen hervorgehen. Ich stelle den Bogen aufs linke Knie, nehme den einen der beiden gegen das rechte Knie gelehnten Pfeile auf, lege ihn auf die Sehne; die linke Hand hält ihn zugleich mit dem Bogen fest, und dann geht die rechte langsam in die Höhe, um – während der Atem voll ausfließt – wieder niederzukommen. Die Hand greift in die Sehne, und dann wird – langsam einatmend -endlich im Heben der Bogen allmählich gespannt. Das ist die entscheidende Bewegung, die so still und stetig geschehen muss, wie der Mond am abendlichen Himmel aufsteigt. Noch habe ich nicht die volle Höhe erreicht, bei der dann der im voll ausgespannten Bogen liegende Pfeil Ohr und Wange berührt – da durchfährt mich die Orgelstimme des Meisters: „Halt!“ Erstaunt und etwas unmutig über diese Unterbrechung im Augenblick höchster Sammlung lasse ich den Bogen herab. Der Meister nimmt ihn mir aus der Hand, schlägt die Sehne einmal um die Bogenspitze herum und reicht ihn mir lächelnd zurück. „Bitte, noch mal!“ Ahnungslos beginne ich aufs neue. – Die gleiche Bewegungsfolge läuft ab. Doch als es zum Spannen kommt, ist meine Kunst schnell am Ende. Der Bogen hat die doppelte Spannung erhalten, und meine Kraft reicht nicht mehr aus. Die Arme beginnen zu zittern, ich schwanke ohne Halt hin und her, die mühsam gewonnene Form ist zerschlagen; – der Meister aber fängt an zu lachen! Verzweifelt bemühe ich mich noch einmal. Es ist aussichtslos. Nichts als ein klägliches Scheitern -Ich mag wohl recht ärgerlich dreingeschaut haben, denn der Meister fragt mich: „Worüber sind Sie denn böse?“ – „Worüber? Sie fragen mich noch? Wochenlang habe ich geübt und in dem Augenblick, in dem es darauf ankommt, unterbrechen Sie mich, noch ehe ich geschossen!“ Der Meister lacht noch einmal hell auf; dann wird er ernst und sagt etwa dieses: „Was wollen Sie eigentlich? Dass Sie die Form erreicht hatten, die zu erringen in diesen Wochen Ihre Aufgabe war, erkannte ich schon an der Weise, wie Sie mir die Haustür öffneten. Aber so ist das: Wenn der Mensch eine Form seiner selbst, seines Lebens, seines Wissens oder seines Werkes erreicht hat, um die er sich vielleicht lange bemühte, dann kann ihm nur ein Unglück geschehen: dass ihm das Schicksal erlaubt, im Erreichten stehenzubleiben und sich darin festzusetzen! Will das Schicksal ihm wohl, dann schlägt es ihm das Gewordene, ehe es sich verhärtet, wieder aus der Hand. Dieses in der Übung zu tun, ist Sache des wissenden Lehrers. Denn worauf kommt es denn an? Doch nicht aufs Treffen! Beim Bogenschießen, sowenig wie beim Erlernen irgendeiner anderen Kunst, geht es letzten Endes nicht um das, was herauskommt, sondern um das, was herein kommt! Herein, d. h. in den Menschen herein. Auch das Sich-Üben im Dienst an einer äußeren Leistung dient über sie hinaus dem Werden des inneren Menschen. Und was gefährdet dies innere Werden des Menschen vor allem?
Das Stehenbleiben im Gewordenen!
Im Zunehmen bleiben muss der Mensch, im Zunehmen bleiben ohne Ende!“ Die Stimme des Meisters war ernst und eindringlich geworden – und in der Tat, dies Bogenschießen ist etwas ganz anderes als ein vergnüglicher Sport, in dem man miteinander im Treffen wetteifert. Es ist eine Lebensschule – oder, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, eine existentielle Praxis.
Anfangs geht es natürlich stets darum, die äußere Technik zu lernen. Doch beherrscht man dann endlich die äußere Form, dann fängt die eigentliche Arbeit erst an, die unermüdliche Arbeit an sich selbst! Auch die Kunst des Bogenschießens ist dann wie jede andere Kunst nur eine Gelegenheit, in die Tiefe des eigenen Wesens zu dringen. Das aber gelingt nur auf dem harten Weg der Läuterung, d. h. der Befreiung vom eitlen und ehrgeizigen Ich, das gerade dadurch, dass es so sehr um das Gelingen der äußeren Leistung besorgt ist, die Vollkommenheit dieser Leistung gefährdet. Erst wenn dieses Ich überwunden ist, kann die rechte Leistung gelingen. Dann aber gelingt sie nicht mehr auf Grund eines vom ehrgeizigen Willen gesteuerten Könnens, sondern auf Grund eines neuen inneren Seins. Die gelungene Leistung ist dann der Erfolg einer Verfassung, in der eine tiefere, man kann sagen übernatürliche Kraft frei wird, die nun gleichsam ohne unser Zutun die vollkommene Leistung vollbringt. Und diese Verfassung, nicht die Leistung als solche, ist der Sinn der Exerzitien Praxis des Zen. In seiner Verfassung bezeugt der Mensch, inwieweit er in seiner klein menschlichen Wirklichkeit durchlässig geworden ist für die Wirklichkeit eines größeren Lebens. Je nach der Reinheit seiner Verfassung kann dieses durch ihn hindurch offenbar werden in der Welt – unter anderem auch in einer vollkommenen Leistung.
Wie das in Wirklichkeit aussehen kann, sei an einer zweiten Erfahrung veranschaulicht, die ich einmal gelegentlich eines Besuches in einem japanischen Kloster machte.
Der vollkommene Kreis
Es war in Kyoto im Jahre 1941. Ein japanischer Freund hatte mir eine Begegnung mit Meister Hayashi, dem Abt des berühmten Zenklosters Myoshinji, vermittelt. Nun besteht in Japan die schöne Sitte des Schenkens. Der Gast bringt dem Hausherrn, wenn er zum ersten Mal zu ihm kommt, ein Geschenk mit, und ebenso zieht auch der Gast nicht, ohne ein Geschenk zu erhalten, von dannen. Das am höchsten gewertete Geschenk ist eines, das man selber gemacht hat. Und so sagte Meister Hayashi, als nach einem guten und langen Gespräch die Stunde des Abschieds da war: „Ich möchte Ihnen etwas schenken. Ich male Ihnen etwas.“ Zwei jüngere Mönche brachten die Malsachen herbei. Ein rotes Tuch wurde als Unterlage auf die Matten gebreitet, ein hauchdünnes Reispapier von etwa 60 cm Höhe und 20 cm Breite wurde darauf gelegt und oben und unten, damit es nicht rutschte, mit einem Bleistab beschwert. Dann wurden Pinsel und Tusche gebracht, aber nicht etwa die schon fertige Tusche, sondern ein Stück harte Tusche, die man erst durch langes Reiben in einem ausgehöhlten Stein, in dessen Mulde etwas Wasser gegossen wird, in flüssige Tusche verwandelt.

In gelassener Umständlichkeit, so als wenn er unendlich viel Zeit hätte -und ein Meister hat immer unendlich viel innere Zeit -, begann nun der Abt sich selber die Tusche zu reiben. Hin und her und hin und her ging die Hand, bis allmählich das Wasser zum flüssigen Schwarz geworden war. Ich wunderte mich, dass der Meister das selber machte und fragte, warum man ihm diese Arbeit nicht abnähme. Die Antwort war sehr bezeichnend: „Im stillen Hin- und Hergehen der Hand, die mit Sorgfalt die Tusche bereitet, wird man ganz ruhig. Alles wird still – und nur aus einem unbewegt stillen Herzen kann etwas Vollkommenes aufblühen.“ Meister Hayashi kniete auf dem Boden, d. h. er saß auf seinen Fersen frei aufgerichtet, mit heiterer Stirn, losen Schultern und jener für den im Sitzen Geübten charakteristischen Gelöstheit des Oberkörpers, die von lebendiger Spannung erfüllt die tragende Mitte des gefestigten Rumpfes zur Voraussetzung hat. Mit einer unnachahmlich ruhigen und zugleich flüssigen Bewegung ergriff der Meister den Pinsel. Einen Augenblick ruhten die Augen wie verloren auf dem Papier, und dann war es, als mache sich der Meister nach innen zu ganz frei, auf dass das im Inneren geschaute Bild ungestört hervorkommen könne – ganz ungehindert von aller Sorge, es könne misslingen, von allem Ehrgeiz, es müsse gelingen. Und so kam es denn auch heraus.
Mit sicheren Strichen entstand ein Bild der Kwannon, der Göttin der liebenden Zugewandtheit. Mit ganz feinen Zügen erst das Gesicht, mit kräftigeren Strichen dann das fließende Gewand und die Blütenblätter, auf denen sie saß, und dann – ja dann kam der Augenblick, um dessentwillen ich diese Geschichte erzähle -das Malen des „Heiligenscheines“, der den Kopf der Kwannon umgab, d. h. das Malen des vollendeten Kreises! Wir alle, die Zeugen waren, hielten den Atem an; denn die meisterliche Bekundung letzter Gelassenheit – diese Bekundung der souveränen Freiheit von aller Angst in einem unstörbar sich vollendenden Tun ist immer wieder ein tief ergreifendes Erlebnis. Man muss wissen, dass auf diesem hauchdünnen Papier jedes Stocken, jedes Innehalten des Pinsels einen Flecken erzeugt und alles verdirbt. Aber ohne auch nur einen Augenblick zu verhalten, tauchte der Meister den Pinsel in die Tusche, streifte ihn etwas ab, setzte ruhig an und – als sei es das einfachste Ding der Welt – schrieb er gleichsam den vollkommenen Kreis aufs Papier -das vollkommene Rund, das nun wie die Ausstrahlung göttlicher Reinheit den Kopf der Kwannon umfing. Ein ganz unvergesslicher Augenblick. Und dann war eine so gute Stille im Raum. Auch der vollendete Kreis vor uns spiegelte nur die Stille, die vom Meister ausging.
Als Meister Hayashi mir das Blatt überreichte, dankte ich ihm mit der Frage: „Wie macht man es nur, ein Meister zu werden?“ Worauf er mit einem leisen Lächeln antwortete: „Einfach den Meister, der in uns ist, herauslassen.“

Zur Stufe dieser Einfachheit ist ein langer Weg. Es ist der Weg der Übung, verstanden als exercitium ad integrum. Doch eben im Hinblick auf diese Übung ist die Antwort des Meisters von richtunggebender Bedeutung; denn in aller Arbeit, die der Mensch auf dem Weg der Verwandlung an sich selber verrichtet, kann er das Gemeinte und Gesuchte am Ende nie „machen“, er kann es nur zulassen. Er kann sich immer nur um die Bedingungen bemühen, unter denen das Leben, das durch irgendwelche Umstände in ihm verstellt war, sich aus sich heraus Stufe um Stufe dem eigenen Gesetz gemäß entfalten und die ihm wesenseigene Form gewinnen kann. Dies aber bedeutet, dass der Mensch lernen muss, das was in ihm ist, herauszulassen. Ob es sich um die lebensgemäße Übung des Atmens handelt oder um technisch schwierige Tat- oder Werkübungen, immer geht es am Ende darum, dass die Leistung nicht mehr einer Anstrengung des Ichs entspringt, sondern aus einem Zulassen des Wesens hervorwächst, dessen Bekundung dann das meisterliche Tun ist. So gibt es vielerlei Atemübungen. Sie erfindet der Mensch. Über ihre Nützlichkeit lässt sich je nach dem Zweck, dem sie dienen sollen, auch streiten. Es gibt aber nur eine Übung des rechten Atems, die ohne Zweifel dem Werden des wahren Menschen dient. Es ist die Übung der Kunst, den natürlichen Atem zuzulassen, also die Übung, die vom unbewusst gemachten Ich-Atem befreit und den von selbst kommenden Wesensatem entbindet.
Es geht bei allen als Exerzitium aufgefassten Übungen im Zen immer um die Kunst, die Bedingungen zu schaffen, unter denen wir am Ende das uns innewohnende Wesen, in dem wir teilhaben am göttlichen Sein, zuzulassen vermögen – als Ursprung und Sinn, Gewissen und Richtkraft einer durchlässig gewordenen Verfassung, die sich dann, mit Bewusstsein und aus Freiheit „ganz einfach“ im meisterlichen Tun offenbart.
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