Vom Yawara zum Judo

Langsam bewegte sich der Daimyogyorezu des Fürsten von Owari über die Tokaido in Richtung Edo. Die aus mehreren hundert Samurai und Gefolgsleuten bestehende Reisegesellschaft kam nur schwer auf der staubigen Straße vorwärts. Zu jener Zeit war es üblich, dass sich jeder Reisende oder Anwohner beim Nahen eines Daimyo auf den Boden werfen und mit der Stirn die auf die Straße gelegten Hände berühren musste. Im allgemeinen tat dies auch jeder, einmal der Ehrfurcht wegen und zum anderen aus Angst vor Bestrafung.

Denn vergaß einmal jemand die nötige Ehrerbietung, sei es, dass er den herannahenden Tross nicht sah, oder er so in seine Arbeit vertieft den Zug nicht bemerkte, benutzten die begleitenden Samurai nicht ihr Schwert, um den Widerspenstigen zurechtzuweisen, sondern erledigten ihn ohne großes Aufsehen mit einem ihrer wirksamen Geheimgriffe. Meist blieb der Unglückliche dann mit gebrochenen Gliedmaßen auf der Straße liegen.

Geheimgriffe der Samurai

Was war geschehen, was hatte es mit diesen Geheimgriffen für eine Bewandtnis.

Die Samurai wendeten hier die Kunst des Yawara oder Jiu-Jitsu erfolgreich an. Versucht man nun den Schleier der Entstehungsgeschichte dieser Kampfkunst etwas zu lüften, befindet man sich mitten in einem Wirrwarr von Legenden, wahren Begebenheiten, mystischen und geheimen Überlieferungen, und es ist sehr schwer, hier Legende und Wahrheit zu trennen, um Licht ins Dunkel zu bringen.

Die Geschichte der Ringkunst muss in ihrer primitivsten Form ebenso alt sein wie die Menschheit selbst, denn bei einem individuellen Zweikampf ohne Waffen muss man sich zu verteidigen und anzugreifen wissen. Und es ist hierbei unabhängig, in welchem Land dieser Kampf ausgetragen wird.

Die Bezeichnung Yawara, für den waffenlosen Kampf, taucht in Japan allerdings erst gegen Mitte des 17. Jahrhunderts auf. Der Begriff Jiu-Jitsu kam dann im frühen 18. Jahrhundert in Gebrauch. Man kann davon ausgehen, dass die frühe Form der Selbstverteidigung das sogenannte Kumi-Uchi oder auch „Ringtechnik des Kriegers in Rüstung” durch Sumo, welches schon 23 v. Chr. erstmals stattgefunden haben soll, stark beeinflusst worden ist.

Diese Kunst des Kämpfens mit der leeren Hand entwickelte sich weiter, und es entstanden verschiedene Stilrichtungen, die sich als Ergänzung zu den bewaffneten Kampfformen verstanden.

Das eigentliche Jiu-Jitsu soll jedoch chinesischen Ursprungs sein. Folgende zwei Überlieferungen erscheinen am ehesten glaubwürdig und wahrscheinlich:

Theorien und Überlieferungen

Um das Jahr 1659 kam ein Chinese namens Chingen-pin nach Japan und ließ sich im Stadtteil Asakusa in Edo nieder. Hier unterrichtete er drei Samurais in der chinesischen Kunst des Chuan-fa. Diese drei Japaner, Fukuno Shichiroemon, Miura Yojie-mon und Terada Heizaemon entwik-kelten daraus und mit dem ihnen bekannten Kumi-Uchi ein System, das sie Jiu-Jitsu, nachgiebige Kriegskunst, nannten. Eine weitere Theorie über die chinesische Herkunft einiger Elemente im Jiu-Jitsu ist folgende:

Ein Mann aus der Provinz Hizen, Akiyama Shirobei, ging zur Zeit der Ming-Dynastie (1368-1662) nach China, um dort Medizin zu studieren. Er hörte in der Nähe seiner Wohnung jeden Tag einen sonderbaren Lärm. Als er danach fragte, bekam er die Antwort, es sei die Übung von Hakuden. Er wollte gern sehen was das wäre, doch wurde ihm nicht erlaubt zuzuschauen, ehe er nicht selbst ein Schüler geworden wäre. Seine Neugierde wurde immer lebhafter, und er entschloss sich daher die Kunst zu erlernen. Darauf studierte er diese Kunst drei Jahre lang und erlernte drei Arten von Griffen. Als er später nach Japan zurückkehrte und diese Kunst seinen Landsleuten lehrte, waren seine Schüler bald mit den drei Griffen vertraut und wollten sich nicht länger mit dieser Kunst beschäftigen. Shirobei entschloss sich daher, weitere Methoden zu ersinnen; er fastete 21 Tage lang im Tempel Dazei-Tenshin und vermehrte die Zahl der Griffe auf 300.

Yawara Jiu-Jitsu
Ein ironisches Bild: Der Sensei und sein hilfloser Schüler

Es war Winter, und am 21. Tag seines Fastens trat starker Schneefall ein. Als er in den Garten sah, waren fast alle Bäume unter der Last des Schnees gebrochen, nur der Weidenbaum widerstand wegen seiner Elastizität. Diese Beobachtung soll er auf die Funktionen des menschlichen Körpers übertragen und mit seinen 300 Techniken das komplizierte System Jiu-Jitsu entwickelt haben.

Jiu-Jitsu Entwicklung

Welche von diesen Überlieferungen die richtige ist, lässt sich nur schwer entscheiden, doch geht aus diesen und sicher noch weiteren Theorien hervor, dass das Jiu-Jitsu nicht unbedingt chinesischen Ursprungs ist, mit Sicherheit jedoch Elemente aus chinesischen Kampfkünsten enthält. Und was vor diesem Zeitraum in Japan existierte, wurde nicht Jiu-Jitsu genannt.

Nachdem nun diese Kampfkunst bekannt war, wurde sie ein fester Bestandteil der Samurai Erziehung wie beispielsweise das Fechten, Reiten, Bogenschießen oder Schwimmen. Allerdings mit dem Hauptaspekt, den Gegner zu töten oder kampfunfähig zu machen, denn sie war ja für den Ernstfall gedacht.

Überall im Land entstanden Jiu-Jitsu Schulen, ihre Meister lehrten die unterschiedlichsten Stilrichtungen, wobei jede Schule darauf bedacht war, ihr System geheim zuhalten. Die Mitglieder der Schule mussten ihre Verschwiegenheit schwören, und die Techniken wurden nur mündlich oder in Form von Schriftrollen von einem Meister zum anderen weitergegeben.

In der Tokugawa-Periode, der ca. 250 Jahre währenden Friedenszeit Japans, verlor Jiu-Jitsu etwas von seiner Popularität und nahm einen mehr sportlicheren Charakter an. Die Zeit der großen Schlachten war vorbei, das Land war befriedet, und der waffenlose Kampf, Mann gegen Mann auf dem Schlachtfeld, wurde nicht mehr ausgefochten.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als Japan seinen Modernisierungsprozess durchmachte und vom westlichen Ausland zu lernen begann, wurde alles Einheimische und Eigene in den Hintergrund verbannt. So verloren alle körperlichen Übungen der ehemaligen Samurai ihre Bedeutung. Die damalige Generation und ihre Lehrer interessierten sich nur noch für das Studium der modernen europäischen und amerikanischen Wissenschaften. Die ehemaligen Kampfkünste wurden als Barbarei abgetan.

Zu jener Zeit lehrte ein gewisser Prof. Dr. Erwin Baelz an der Kaiserlich-Japanischen Universität in Tokyo Medizin. Er war es, der das Jiu-Jitsu zu neuem Leben erweckte. Durch die schlechte körperliche Verfassung der damaligen Studenten alarmiert, begann er zunächst das alte japanische Schwertfechten wieder zu popularisieren. Etwas später machte er Bekanntschaft mit Jiu-Jitsu, welches von Meister Totsuka noch gelehrt wurde. Er erkannte sofort die ausgewogene körperliche Beanspruchung, die diese Art der Bewegungen bewirkte. Es gelang Baelz eine Vorführung in Tokyo zu arrangieren, worauf einige Studenten, namentlich der junge Gelehrte Jigoro Kano, intensiv das Jiu-Jitsu Training aufnahmen.

Entwicklung des Systems Judo

Entwicklung Judo

Kano reiste durch ganz Japan und forschte nach den alten, längst vergessenen Schulen und Stilrichtungen des Jiu-Jitsu. Dort, wo es im geheimen noch gelehrt wurde, nahm er praktischen Unterricht. Dort wo nur noch die alten Schriftrollen zu finden waren, studierte er die Theorie dieser alten Kunst. So lernte er im Laufe der Jahre alle Vor- und Nachteile der verschiedenen Systeme kennen und begann nun daraus sein eigenes System zu entwickeln. Er ging davon aus, eine Methode zu entwerfen, in der die sportlichen Aspekte vorrangig sein sollten. Er wollte eine Stilrichtung, in der das Ziel nicht der Kampf selbst sein sollte, sondern die Ausbildung von Körper und Geist. Jigoro Kano entschärfte gewissermaßen die alten Systeme, indem er alle tödlichen und gefährlichen Elemente entfernte und nur die jeweiligen Vorzüge der Schulen und seine eigene Entwicklungen zusammenfügte.

So entstand eine neue Kampfkunst die er Judo (sanfter Weg) nannte. 1882 gründete Kano in Tokio den Kodokan, die Schule zum Studium des Weges. Diese Ausbildungsstätte für Judo ist bis zum heutigen Tage das Zentrum für die sportlichen und geistigen Grundlagen des Judo geblieben.

Die ersten Berichte über asiatische Nahkampftechniken brachten sicherlich die Holländer, Spanier und Portugiesen von ihren Ostasienreisen im 17. Jahrhundert mit nach Europa, doch liegen uns hier keine offiziellen Quellen vor.

Den ersten offiziellen Bericht in Amerika und Europa über das Jiu-Jitsu erstattete Lafcadio Hearn, Journalist in Japan und hervorragender Japankenner, im Jahre 1893 in seinen Büchern „Out of East” bzw. „Kyushu”. Zahlreiche Meister reisten nach Amerika und demonstrierten dort ihre Kunst. Die ersten Demonstrationen dieser Art in Europa, konnte man um 1900 in England bewundern, als japanische Sportler in London gastierten. 1906 führten japanische Marineangehörige im Rahmen eines Freundschaftsbesuches in Kiel, dem deutschen Kaiser Wilhelm II. Jiu-Jitsu vor. Dieser war begeistert und engagierte sofort einen japanischen Lehrer für die Hauptkadettenschule Lichterfelde in Berlin. Von jener Zeit an begann der langsame und stetige Aufstieg dieser Kunst auch in Deutschland. Dies soll nun nicht bedeuten, dass es in Deutschland vorher keine waffenlose Selbstverteidigung gegeben hat. Im Gegenteil, das Ringen spielte im europäischen Mittelalter unter den körperlichen Übungen eine große Rolle. Ursprünglich ein Teil der Fechtkunst (Fechtringen) konnte der Gegner auch ohne Waffen oder nach der eigenen Entwaffnung angegriffen werden.

Jiu-Jitsu Judo

Es gab hier durchaus Techniken, mit denen der Gegner durch Handkantenschläge oder Tritte getötet werden konnte, die dem heutigen uns bekannten Karate oder Jiu-Jitsu sehr ähnlich waren.

Wie jede neue Sportart, so hatte auch das in Deutschland eingeführte Jiu-Jitsu seine Kritiker und Apostel. Noch 1925 wies beispielsweise eine große Berliner Tageszeitung alle Wünsche nach einer Berichterstattung mit der Begründung zurück: „Über Jiu-Jitsu können wir nichts berichten, da wir Jiu-Jitsu nicht als Sport betrachten.” Tauchte dennoch irgendwo ein Bericht auf, so bezeichnete man Jiu-Jitsu meist als wüste Prügelei.

Einer jener Apostel, die sich verdient gemacht haben, war uneingeschränkt Altmeister Erich Rahn. Er machte Jiu-Jitsu in Deutschland populär, indem er es verstand, diese Kunst der deutschen Mentalität anzupassen. Ein weiterer Wegbereiter war Alfred Rhode, der sich jedoch nach eingehendem Studium des Jiu-Jitsu (in Rahns Sportschule in Berlin) dann doch dem Judo I zuwandte. Alfred Rhode empfand vielleicht ähnlich wie Jigoro Kano, als er unabhängig von den Japanern Jiu-Jitsu entschärfte, um daraus einen Wettkampfsport zu machen. Ab 1932 lud Rhode regelmäßig zu den internationalen Sommerschulen in Frankfurt ein und holte die bedeutendsten Lehrer der damaligen Zeit in die Mainmetropole. Durch den II. Weltkrieg und die Nachkriegszeit, in der die alliierten Besatzungsmächte den Kampfsport verboten, wurde die Weiterentwicklung sehr stark behindert. Und erst 1948 musste aus kleinsten Anfängen heraus wieder aufgebaut werden. Erst 1964 wurde Judo vom internationalen Olympischen Komitee als olympische Disziplin zugelassen, obwohl schon 1910 Jigoro Kano Mitglied des Olympischen Komitees war.

Im In- und Ausland erfreut sich Judo als Ausgleichssport oder Wettkampfsport seither einer großen Beliebtheit. Ebenso hat auch Jiu-Jitsu als reine Selbstverteidigung oder ausgleichendes Element seine zahlreichen Anhänger gefunden. So unterschiedlich sie in ihrer Zielsetzung auch sind, eines haben sie wie alle Budo Sportarten jedoch gemeinsam, die sinnvolle Verwendung von Körper und Geist mit dem Ziel der Selbstverwirklichung.

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