Der Laie wird eine Karate Form als eine dem Schattenboxen ähnliche Serie von festgelegten Bewegungen bezeichnen. Man erkennt Blocks, Faust- sowie Fußstöße in verschiedene Richtungen, es ist also ein imaginärer Kampf gegen mehrere Gegner. Der Effekt der sportlichen Übung und des Koordinationstrainings wurde von den Meistern, die die Formen zusammenstellten, sicher nur als Nebensache angesehen. Die Frage nach dem Sinn einer Form lässt sich nicht allgemein beurteilen, es kommt auf die Form an: Es gibt Formen, die darauf ausgelegt sind, dem Schüler die Basisbewegungen eines Stils beizubringen. Anderen liegt ein bestimmtes Prinzip zu Grunde, zum Beispiel das direkte Eindringen in den Gegner oder der mehrmalige Wechsel der Auslage. Auch gibt es inzwischen sogenannte Freistil-Formen, die zu Wettkampfzwecken meist von dem Ausübenden selbst zusammengestellt worden sind. Die traditionellen Formen haben jedoch noch einen tieferen Sinn-. Während sie die Gesundheit des übenden durch die besondere Atemweise positiv beeinflussen, wirken sie sich auch auf seine Einstellung zum Kämpfen aus, da die Form vom Ausführenden verlangt, voll bei der Sache zu sein. Er muss sich also auch gefühlsmäßig in den Kampf hineinversetzen können. Andererseits ist eine Form auch eine ausgezeichnete Methode des Solotrainings, die Kondition und die Konzentration des Übenden deutlich verbessern kann.

So muss heute jeder für sich entscheiden, warum er Karate Formen trainiert. Es gibt Leute, die im Training nur „durch eine Form durchrasen‘, ohne mit dem Kopf bei der Sache zu sein. Für sie muss Kampfsport das gleiche sein wie Ballett oder Aerobic: das Nachahmen von Bewegungen.
Die verschiedenen Arien des Formentrainings sollen nun näher vorgestellt werden:
FORMEN ZUR SCHULUNG VON BASISBEWEGUNGEN
In den meisten Stilrichtungen wird bereits dem Anfänger eine Form beigebracht. Oft wird er keine Freude daran haben, sieht er doch überhaupt keinen Sinn darin, sich roboterhaft nach einem festgelegten Schema zu bewegen. Er wird seine Form nur in den seltensten Fällen emotionsgeladen Vortragen oder sich Gedanken über Anwendungsmöglichkeiten machen. Erst nach einigen Jahren wird er feststellen, dass durch das Üben dieser Form die Basis seines Kampfsports gelegt wurde. Durch das ständige Wiederholen gewisser Bewegungsmuster, wie zum Beispiel Abwärtsblock – Konterfauststoß wurden diese automatisiert – der Sportier muss sich nicht mehr auf deren Ausführung konzentrieren.
DIE ROLLE DER GRUNDSCHULE
„Das kann man aber auch durch Grundschultraining erreichen“, werden nun die Formengegner sagen. Die Antwort heißt „nur bedingt“, da in einer Grundschulkombination in den meisten Fällen maximal fünf Techniken geübt werden. Dadurch kann zwar mehr Betonung auf die Einzeltechnik legen, doch bewegt sich der Schüler nur in eine Richtung und automatisiert nicht so viele Bewegungen. Dennoch stellt die Grundschule das Gerüst dar, auf das jede Kampfkunst aufgebaut wird. Wenn die Basis nicht stimmt, wird der Kämpfer irgendwann auflaufen. Bezüglich der Grundtechniken gibt es verschiedene Ansichten, während die einen sagen, dass jede Technik so stark wie möglich ausgeführt werden muss, sagen andere, dass es vor allem darauf ankommt, sich selbst vor eventuellen Gegenangriffen zu schützen. Andere Kampfkünste wiederum beschäftigen sich fast gar nicht mit dem Schlagen, sondern konzentrieren sich ausschließlich auf Hebel und Würfe. Dabei hat jede dieser Philosophien ihre Daseinsberechtigung. Die traditionellen Stilisten, die jede einzelne Technik etliche Tausend mal üben, um sie zur maximalen Effektivität zu bringen, tun dies mit dem Hintergedanken, auch den Geist unbesiegbar zu machen, da von dem Karateka erwartet wird, stets vollen Einsatz zu bringen. So bekommt er irgendwann die Einstellung „es gibt nichts, das ich nicht schaffen kann.“ Das Problem bei dieser Art des Trainings liegt allerdings darin, dass durch das Zurückziehen der passiven Hand dem Gegner viel Angriffsfläche geboten wird. Es wird einfach nicht bedacht, dass die Einzeltechnik nicht ausreichen könnte. Eine Stufe weiter sind diejenigen, die bei der Ausführung ihrer Techniken stets auch ihre eigene Verletzlichkeit bedenken und daher auch die passive Hand mit einsetzen. Dass Hebel und Würfe ebenfalls zum Repertoire eines „Rundum-Kampfkünstlers“ gehören, wird derjenige feststellen, der sich intensiver mit den Anwendungsmöglichkeiten der Basis beschäftigt. So kann man die passive Hand, die zur Hüfte zurückgezogen wird (Hikkite) als ein Greifen und herziehen der gegnerischen Hand bezeichnen.
FORMEN ZUM KONDITIONS- UND KRAFTTRAINING
Es gibt einige Formen, die ursprünglich nicht als Kampf gegen imaginäre Gegner gedacht waren, sondern als Kraft- und Konditionsübung. Zwei Beispiele dafür sind Sanchin und Tensho, die heute vor allem im Goju-Ryu geübt werden. Sanchin ist eine Form, deren Schwerpunkt auf der kraftvollen Atmung liegt, die aus dem Hara kommen sollte. Sie korrekt auszuführen, braucht zwar viel Kraft, aber es senkt den Puls, wenn er durch eine vorangegangene Konditionsübung sehr schnell ist. Andere Formen lassen sich durch hohe Wiederholungszahlen zum Konditionstraining einsetzen. So wird zum Beispiel in Tsutomu Ohshimas Verband bei den Spezialtrainings die Tekki Shodan 100 mal hintereinander gemacht. Für das individuelle Training bieten sich so viele Möglichkeiten, gleichzeitig Technik und Kondition aufzubauen.
FORMEN -LEXIKA DER BEWEGUNGEN?
Die fortgeschrittenen Formen beinhalten deutlich mehr Techniken als das Grundschulprogramm der meisten Stile vorsieht. Im Grundschultraining werden also meist nur die für diesen Stil subjektiv wichtigsten Techniken geübt. Andere Techniken würden, falls die Formen vergessen werden, ebenfalls in Vergessenheit geraten. Dies mag für die derzeitige Generation noch nicht so schlimm sein, sie wird einfach die Techniken, die ihr nötig erscheint, auswählen.

Irgendwann werden jedoch andere Verhältnisse herrschen, und die Frage nach den Formen von früher wird wieder aufkommen. Daher heißt die Devise: Das neue suchen heißt, das alte zu verstehen. Am Beispiel der Shotokan-Kata Bassai-Dai kann sehr gut verdeutlicht werden, dass mehr hinter den Formen steckt, als zuerst angenommen. Vom rein oberflächlichen Standpunkt her betrachtet beinhaltet diese Form vor allem Blocks zur Seite, Handkantenblocks, Faustangriffe und Ellenbogentechniken sowie einen Stampf-tritt. Die geistige Einstellung, die diese Kata vermitteln will, lautet „Eine Festung stürmen“, denn der Sportler soll die Form mit der entsprechenden Explosivität ausführen. Die Taktik, die der Bassai-Dai zugrunde liegt, basiert auf dem Auslagewechsel der Arme bei den Blocktechniken. Soviel zum Äußeren – abgesehen von einem offensichtlichen Handgelenkhebel enthält diese Form also nur Blocks, Kicks und Fauststöße. Weit gefehlt: Bereits die erste Technik, ein Doppelblock in gekreuzter Fußstellung, kann beispielsweise als Eingangstechnik in einen Armdrehhebel (Sankyo im Aikido) gesehen werden. Werden die folgenden Blocks in kreisförmige Schläge umgewandelt, kommt man von der einst so „braven“ Kata zu effektiven Kombinationen, die ohne die bestehende Kata sicher in Vergessenheit geraten wären.
FORMEN UND KAMPF
Viele der Bewegungsmuster aus den Kata lassen sich sinnvoll in das Kumite einbauen. So besteht eine enge Beziehung zwischen Bunkai (Kata in Anwendung) und dem Kihon-Kumite (einfache Partnerübungen). Der Schüler wird so langsam an die Umsetzung der traditionellen Techniken gewöhnt. Dabei sind die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der einzelnen Techniken zu beachten, denn was für den Anfänger noch ein einfacher Block sein mag, ist für den Meister eine komplette Abwehrtechnik mit Gegenangriffen zu mehreren Nervenpunkten. Grundsätzlich gibt es drei Abwehrprinzipien:
1) BLOCK UND KONTER
Hier wird der einzelne Angriff zueßt abgewehrt, eßt dann erfolgt ein Gegenangriff. Dies beinhaltet eine relativ große Verzögerung.
2) BLOCK MIT KONTER
Dabei gibt es keine passive Hand, da eine Hand abwehrt, während die andere zur gleichen Zeit kontert.
3) DIREKTER KONTER
Die letzte Stufe stellt die direkte Kontertechnik dar, die, ohne den Angriff überhaupt abzuwehren, zuerst trifft. Dabei sollte trotzdem die eigene Verletzlichkeit nicht vergessen werden.
Neben diesen drei Stufen steht das Prinzip des Aufnehmens und Weiterleitens der gegnerischen Energie. Dies resultiert meist in einem Hebel oder Wurf, wobei hierbei bedacht werden muss, dass für diese Techniken eine Angriffsenergie vorhanden sein muss, damit der Angreifer sich nicht gegen die Technik sperren kann.
Später sollte versucht werden, diese Prinzipien auch in den freien Kampf einfließen zu lassen, denn nur so kann man sehen, ob man dazu in der Lage ist, sie sicher durchzuführen.
FORMEN UND SELBSTVERTEIDIGUNG
Für viele ist die Selbstverteidigung der wichtigste Grund für das Erlernen einer Kampfkunst, Aspekte wie Charakterschulung kommen erst später dazu. Daher ist es sehr wichtig, dass die Schüler folgenden Satz begreifen: Formen sind Selbstverteidigungstraining! Jede Form ist ein Kampf gegen mehrere Imaginäre Gegner, die sich der übende vorstellt. Nur so kann er auch das nötige Adrenalin aufbringen, um die Form „zum Leben zu erwecken“. Beim Selbstverteidigungstraining sollte man, nachdem man viele Techniken in sein Repertoire gepackt hat, ebenfalls zu freierem Kämpfen übergehen, bei dem, in kontrolliertem Rahmen, alles erlaubt ist. Auch sollte man sich nicht davor scheuen, Bodenkampf einzubeziehen.
WEICH ODER HART?
Der Kampf zwischen den Anhängern harter und weicher Formen ist mindestens so alt wie die offene Turnierszene. Die einen bezeichnen die Softstyleformen als zu tänzerisch, die anderen sagen, die Hardstyleformen seien zu starr und unbeweglich. Dabei werden die Unterschiede mit steigendem Niveau ohnehin geringer, die Softformen werden kraftvoller während die Hardstylisten runder werden. Wie sich die Interpretation einzelner Grundtechniken ändert, nähern sich Extreme an, was die Philosophie des Yin und Yang verkörpert.
FAZIT
Die Ansichten über das Formentraining wurden dargestellt. Vielleicht ist es verständlich, warum auch viele „moderne Kampfkünstler“ sich damit beschäftigen.
Kampfsport Artikel
Karate Videos