Tagebuch eines Wettkämpfers

Die letzten Tage vor dem Karate Wettkampf

Viel ist geschrieben worden über Turniere, die Kämpfe, die Zuschauer, die Atmosphäre, die Veranstaltungsorte… kurz über das ganze Ambiente einer Veranstaltung. Wenig oder gar nichts dagegen erfährt man über die Seele, das Innere dieser Sportler, über das also, was er denkt und fühlt; wie er sich auf die Turniere vor- oder nachbereitet; was ihm am Turniertag so alles durch den Kopf geht. Das „Tagebuch eines Wettkämpfers“ gibt Auskunft. Es begann am 5. März, wobei der Wettkampftag der 9. Mai war. Ca. 8 Wochen vor dem Wettkampf also. Heute ist es endlich so weit: heute ist der Tag des Kampfes…

6 Uhr

Noch liege ich im Bett. Es ist so weit, der große Tag ist angebrochen: heute oder nie! Ich stehe auf und schalte das Radio an: „It’s now or never…“ Elvis Presleys Stimme schallt durch mein Zimmer… Zutreffend!

6.30 Uhr

Ich steige unter die Dusche. Natürlich klingelt das Telefon in dem Moment, als ich meinen Fuß in die Duschwanne setze, ärgerlich… Ich renne hin, rutsche aus… das hätte leicht schiefgehen können, in der letzten Minute noch ein gebrochener Arm oder etwas ähnliches. Als ich den Hörer abnehme, ist der Anrufer schon nicht mehr da. Schade, vielleicht war es einer von der Mannschaft.

7 Uhr

Am frühen Morgen nimmt mich bereits meine Mutter „in die Mangel“: „Du musst essen!“ sagt sie, „Mit leerem Magen zum Sport, wo gibt’s denn so was!“ Aber ich will nichts – ein hungriger Tiger kämpft besser!

Karate Tagebuch

7:30 Uhr

Schon zweimal habe ich meine Ausrüstung kontrolliert: Obi, Gi, frisch gewaschen und gebügelt. Er sieht aus wie neu: Tiefschutz, Schienbeinschützer. Letztere dürfen wir sowieso nicht tragen: altmodische Regeln. Sollte Basile oder einem anderen Schiedsrichter mal einen Maegeri gegen seinen Ellbogen knallen, wetten, daß dann die Regeln schnell geändert würden?!

7:45 Uhr

Ich versuche die Zeit totzuschlagen. Sind es wirklich nur 60 Minuten in einer Stunde? Es wird und wird nicht später! Auch aus dem Lesen wird nichts: ich kann mich nicht konzentrieren. Ich denke an meine Gegner. Wer wird der erste sein? Wie viele Kämpfe muß ich machen? Wer ist der Kampfrichter? Ich fühle mich kalt, eiskalt. Dennoch bin ich geladen, der richtige Auslöser wird mich zum explodieren bringen.

8 Uhr

Ich nehme meinen Wagenschlüssel und meine Sachen. Noch einmal drehe ich mich um; wenn ich zurückkomme, werde ich nicht mehr derselbe sein; dann bin ich Sieger… oder Verlierer – los geht’s!

8:45 Uhr

Ich betrete die Sporthalle. Noch sind kaum Zuschauer da. Ein paar Leute fummeln an den Mikrophonen rum. Ich setze mich auf die untere Bank der Tribüne. Die Kampfflächen sind schon mit rotem Klebeband umrandet; in den Ecken stehen die Stühle der Kampfrichter, auf jedem Stuhl liegt eine rote und weiße Flagge… Aka und Shiro… die Gegner! In der Sporthalle ist es stickig. Sie füllt sich langsam mit Zuschauern, Funktionären und Kämpfern. So, nun zu den Umkleideräumen: mal sehen, wer alles da ist.

Karate Kampfrichter

9 Uhr

Alphabetisch nach Ländern geordnet, stehen wir in mehreren Reihen im Zentrum der Halle: Alle Kämpfer im weißen Gi, die Referees daneben im vornehmen blau-grau. Delcourt, der EKU-Präsident, erklärt etwas in französischer Sprache. Ich höre kaum zu. Vichet, der EKU-Referee-Chef, auch ein Franzose, gibt das Zeichen für das Begrüßungszeremoniell.
Die vertrauten, japanischen Sätze steigern noch meine Spannung. Gleich geht es los! Eine kalte Faust krampft sich um meinen Magen.

9:15 Uhr

Ich laufe an der Stirnseite der Halle auf und ab, fühle mich etwas aufgekratzt. Ein paar Leute sprechen mich an, bin aber in diesem Moment nicht zum Reden aufgelegt. Ich spüre nur die Spannung in mir, ich denke an den bevorstehenden Kampf… Ich weiß immer noch nicht, wer mein Gegner ist… Egal…, ich werde ihn schon packen!

9:45 Uhr

Plötzlich tönt eine Stimme durch das Mikrophon: „Pro-chain combat: Lemmens, Bel-gique, contre Mitchell, Angle-terre.“ Verflucht: Das ist dieser bärenstarke Engländer, mindestens zehn Kilogramm schwerer als ich. Basile, der bärtige Italiener, schreitet zum Shiai-Jo; er ist Hauptkampfrichter. Auch das noch! Ich binde meinen Gürtel ab und wieder um, ziehe meinen Gi gerade. Ich fühle mich leicht, im Köpf habe ich nur noch Watte. Auf geht’s zur Kampffläche…!

Karate Kampf

9:50 Uhr

„Shobu Ippon, Hajime!“, „Osu…!, ich gleite nach vorne, vor mir mein Gegner. Ich explodiere, katapultiere meinen Körper vorwärts… „Maete-Zuki Jodan“. Das Publikum klatscht. Hinter mir brüllt Jean, unser Coach: „Der saß!“. Ich nickte selbstsicher und gehe auf meinen Platz zurück. „Yoi!“ Mitchell steht schon wieder in Ausgangsstellung und bemüht sich, ausdruckslos zu blicken. Ich spüre aber seine Unsicherheit. Basile kreuzt die Arme: „Toremasen!“ Vereinzelte Buhrufe im Publikum. Im Rücken fühle ich Jeans Enttäuschung. „Hajime!“ Auf einmal scheine ich mich in einem Vakuum zu befinden, die Zeit bleibt stehen, ich höre nichts, auch in mir ist absolute Stille. Mein Gegner ist mir nahe, ein weißer Fleck. Zeit und Bewegung, Aktion und Reaktion. Mein Gegner und ich werden in dieser Millisekunde „Eins“, „laaaa…!“ Ich wache auf, wie aus einem Traum: Mitchell liegt am Boden und starrt mich mit großen Augen an. Vier rote Flaggen zeigen zur Decke! Basile peilt mich unwirsch an, sein Arm zeigt mit geöffneter Hand zu mir: „Yame!“ Wir gehen zu unserer Ausgangsstellung zurück. „Ashi-Barai, Jod-an-Zuki, IPPON!“ Das Publikum tobt, meine Mannschaftskollegen brüllen sich die Lunge aus dem Leib. „ReiL“, ich grüße kurz, drehe mich um, binde meinen Gürtel ab. Jean umarmt mich, Schulterklopfen der anderen: „Du warst einsame Spitze!“ Ja, denke ich, an der Spitze und am Boden ist man immer einsam, dennoch das Lob schmeckt mir wie Milch und Honig.

10 Uhr

Ich gehe in die Umkleideräume, habe keine Lust zu jubeln. Geladen bin ich immer noch; ein Glas Wasser hilft. Was wird der Tag noch bringen? Dieses „Tagebuch eines Wettkämpfers“ ist aus Gesprächen und Notizen mit Geert Lemmens (damals 2. Dan Karate), vor der Karate-Europameisterschaft der EKU in Brüssel entstanden.

Dieses „Tagebuch eines Wettkämpfers“ ist aus Gesprächen und Notizen mit Geert Lemmens (damals 2. Dan Karate), vor der Karate-Europameisterschaft der EKU in Brüssel entstanden.

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