Man sagt, dass vor ca. 280 Jahren, während der Belagerung des Shaolin-Klosters durch Manchu-Soldaten, ein Feuer ausbrach, das das Kloster in Schutt und Asche legte und die Bewohner des Klosters tötete.
Einige wenige Kampfkunst-Experten jedoch konnten entkommen und lebten seitdem unter falschen Namen an anderen Orten. Zu diesen Überlebenden gehörte Ng Mui, eine der sog. fünf Älteren oder Anführer des Shaolin-Klosters. Die buddhistische Nonne zog nach einem Berg, der an die Szechwan-Provinz in China grenzte. Um sich an den Verrätern zu rächen, die dem Shaolin-Kloster so übel mitgespielt hatten, hielt Ng Mui es für nötig eine neue Kampfmethode zu schaffen, die dem Shaolin Kung Fu überlegen war. Dieses neue System sollte alle Schwachpunkte der Shaolin-Technik für sich ausnutzen. Nachdem es ihr gelungen war, solch ein System zu schaffen, gab sie es weiter an ein Mädchen namens Yim Wing Tsun. Das Ergebnis war ein völlig neues Kung Fu-System, das WING TSUN KUEN.

Ob sich die Geschichte nun wirklich genau so ereignet hat oder nicht, eines jedoch steht fest: Die Techniken des Wing Tsun-Systems wurden in der Tat entwickelt, um die Techniken des Shaolin Kung Fu zu besiegen. Somit stehen sie in völligem Widerspruch zur traditionellen Theorie der chinesischen Kampfkunst.
Vergleich der Stellungen
So werden z. B. im Shaolin-System weite Stände wie der „Quadrilateral-Stand“ oder der „Frontal-Stand“ benutzt, um den Schwerpunkt zu senken und Stabilität zu erhalten. Im Wing Tsun Kung Fu jedoch geht es vielmehr darum, die Stabilität des Schwerpunktes zu bewahren, nicht aber einen möglichst tiefen Stand einzunehmen. Denn ganz im Gegensatz zur alten Auffassung hat der Kämpfer bessere Chancen in der Verteidigung und im Angriff, der höher steht als sein Gegner.

Die Wing Tsun-Grundstellung (Cha-racter „Two“ Adduction Stance) ist eine typische Stellung, die in Einklang mit diesem Gedanken geschaffen wurde. Bei diesem Stand werden durch die Füße, die nach innen gedreht werden, ein gleichschenkliges Dreieck gebildet. Das Gewicht ruht zwischen den Beinen und wird von den Füßen getragen, wobei die Theorie dieser Konstruktion der eines Stehauf-Männchens oder der des Eiffelturms ähneln mag.
Welche Chance hat der Schwächere?
Die Kraft, die der Shaolin-Anhänger benutzt, ist schiere Muskelkraft. Wenn jedoch zwei Kämpfer sich auf ihre Körperkraft verlassen, ist immer der Stärkere im Vorteil. Wo bleibt hier die Chance für den Schwächeren? (Etwa für eine Frau?). Ein Wing Tsun-Anhänger versucht deshalb gar nicht erst, mit Gewalt gegen die Kraft des Gegners anzugehen. Statt dessen macht er sich dessen Kraft zunutze. Er „borgt“ die Kraft des Gegners.
Wing Tsun Distanz
Ein traditioneller Kung Fu-Mann hält gerne einen größeren Abstand zu seinem Gegner. Dadurch macht er es aber seinem Gegner möglich, zu entkommen, auszuweichen oder seine Kräfte wieder zu sammeln. Ein Wing Tsun-Kämpfer bevorzugt den Nahkampf, um den Angriff solange fortsetzen zu können, bis der Gegner, der keine Zeit erhält, Atem zu schöpfen, überwältigt ist.
Der größte Unterschied
Der gravierendste Unterschied zwischen dem herkömmlichen Kung Fu und dem Wing Tsun-System ist jedoch nicht in Äußerlichkeiten, sondern im revolutionären Gesamtkonzept zu finden. Das traditionelle Kung Fu vertraut auf vorher festgelegte, stereotype Bewegungsfolgen oder Kombinationen (Prearranged sequen-ce of movements). In einem richtigen Kampf jedoch greift der Gegner (anders als der Partner beim Üben) niemals genauso an, wie man es einstudiert hat. Vielleicht macht er dies. Oder er macht das. Aber er sagt vorher nie, was er vorhat. Im Wing Tsun wird unsere Bewegung direkt durch die Bewegung des Angreifers bestimmt. Unsere Technik ist die direkte Reaktion auf die Aktion des Gegners! Um schnelle und sinnvolle Reaktionen zu erreichen, ist das Chi-Sau-Training entwickelt worden.
Yip Man
Von Ng Mui über Yim Wing Tsun und weitere Generationen wurde das Wing Tsun-System geheim weitervermittelt. Erst Großmeister Yip Man machte diese Verteidigungsmethode der Öffentlichkeit zugänglich, indem er eine Wing Tsun-Schule eröffnete und Schüler aufnahm.
Verschiedene Auffassungen unter den Schülern Yip Mans
Nach Yip Mans Tod herrschen unter seinen Schülern die verschiedensten Auffassungen darüber, was das wahre Wing Tsun sei. Diese abweichenden Meinungen rühren u. a. daher, daß diese Schüler zu verschiedenen Unterrichtsperioden Yip Mans gehören, aber auch daher, daß die Auffassungsgabe der Menschen verschieden ist.
Dr. Leung Ting

Sifu Leung Ting ist der auserwählte Schüler, den der verstorbene Großmeister Yip Man als „Closed-Door-
Disciple“ aufnahm, nachdem er sich schon offiziell vom Unterricht zurückgezogen hatte. (Daher der Ausdruck „Closed-Door-Disciple“. Der Schüler, der noch eingelassen wurde, nachdem die Tür der Schule schon geschlossen war.) Leung Ting war es, der von Yip Man die Technik erlernte, die dieser in seiner letzten Periode konzipierte (Yip Mans Altersstil). Nach über 25 Jahren unermüdlicher Praxis in Forschung und Lehre unterscheidet sich Leung Tings Auffassung vom Wing Tsun ganz erheblich von den Theorien der Yip Man-Schüler der früheren Perioden. Um diese unterschiedliche Auffassung auch optisch deutlich zu machen, nennt Leung Ting das von ihm unterrichtete System „Wing Tsun“. Damit benutzt er eine andere Schreibweise als die Yip Man-Schüler, die ihre Methode etwa „Wing Chun“ oder „Ving Tsun“ schreiben.
Siu-Nim-Tau (SNT)
heißt genau übersetzt „Kleine Idee“. Es ist die fundamentale Form (= Bewegungsfolge) des Wing Tsun-Systems. Für den Anfänger bedeutet „Kleine Idee“, er soll diese kleine, aber völlig neue Idee (Auffassung) zu seiner eigenen machen und die „alte“ Idee (Auffassung), die er vielleicht vorher hatte, restlos ablegen. Wie bei den anderen Wing Tsun-Formen soll man auch bei der 1. Form, der SNT, den ganzen Körper entspannen und jede Bewegung leicht und weich durchführen.
Fälschlicherweise glauben manche andere Vertreter von Yip Mans Kampfkunst, dass der Trainierende die Anspannung der Muskeln betonen soll. Dies ist aber ein Widerspruch zur Wing Tsun-Theorie, nach der die Kraft des Gegners benutzt werden soll, um ihn zu besiegen. In diesem Falle würde unsere Kraft gegen uns benutzt werden!
Außerdem würde uns die Anspannung der Muskeln behindern und eine schnelle Streckbewegung (etwa Fauststoß) unmöglich machen, besonders dann, wenn die Beugemuskeln (etwa Bizeps) angespannt sind. Beim Fauststoß benötigen wir nämlich die Streckmuskeln (die Gegenspieler der Beugemuskeln) wie den Trizeps. Somit kann das Gewichtheben (nicht ohne Einschränkung) als Ergänzungstraining zum Wing Tsun empfohlen werden.
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