Gleich welche Zeitschrift oder welches Buch über chinesische Kampfkunst man zur Hand nimmt, immer und überall findet man den „ShaoLin-Tempel“ als ersten nachweisbaren Ort, in dem dieser oder jener Kung Fu-Stil seinen Ursprung hatte. Nur zu häufig wird es dabei belassen, ohne näher darauf einzugehen, von welchem Tempel überhaupt die Rede ist. Im allgemeinen handelt es sich dann um den ersten und Haupttempel in der Provinz Honan. Im Laufe der Jahrhunderte aber kamen noch einige kleinere Klosterstätten hinzu. So z. B. auch der in der südchinesischen Provinz Fukien errichtete ShaoLin-Tempel. Dieser Fukien-Tempel war zu Anfang lediglich eine kleine Zweigstelle des Honan-Tempels. Bezüglich Größe, Einfluß und Kampfkunst lag er weit hinter dem Honan-Tempel zurück. Als jedoch 1570 n.Chr. im Honan-Tempel ein Feuer ausbrach, änderte sich das schlagartig. Unter anderen zogen Mönche mit höchster Kampffertigkeit zeitweilig in den Fukien-Tempel um.
Mit sich führten sie kostbare Bücher und Aufzeichnungen über Kampfkunst, die den Flammen entgangen waren. In dieser Zeit wuchs die Bedeutung des Fukien-Tempels. Selbst nach dem Wiederaufbau konnte der Honan-Tempel seinen einstmaligen Status nicht wiedererlangen. Als der Honan-Tempel im 18. Jahrhundert schließlich von Regierungstruppen angegriffen wurde, bedeutete dies seine völlige Zerstörung. Angeblich überrannten 60000 Soldaten die Klosterstätte. Dem Pfeilhagel und der Gewalt von Kanonen hatten die Mönche nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Der Tempel wurde abgebrannt, die entflohenen Mönche verfolgte man gnadenlos. Eine Anzahl Entkommener flüchtete nach Südchina und dort in den Fukien-Tempel. Grund dafür war der geringe Einfluss der Regierung in Südchina.

Bei der Vernichtung des Fukien-Tempels ließen Jahre später mehr als 1000 ShaoLin-Anhänger tapfer ihr Leben. Nur rund zwei Dutzend Personen entkamen diesem Blutbad, unter ihnen die vielzitierten „Fünf Alten“. Das waren die höhergeachteten Mönche Bei Mei, Ng Mui, Chi Sim Sun Si, Fung Tao Tak und Miu Hin. Jeder der Fünf Alten kreierte später nach persönlichen Vorstellungen ein eigenes System. So z. B. zeichnet man Ng Mui dafür verantwortlich, den Wing Chun-Stil entwickelt zu haben. Bei Mei begründete den später nach ihm benannten Bei Mei-Stil und Miu Hin verbreitete den Hung Kuen-Stil (fünf Tiere-Stil). Aber auch andere entkommene ShaoLin-Flüchtige entwarfen ihre eigenen Systeme.
Das Fukien-Kloster hatte bereits seit dem Feuer des 16. Jahrhunderts die Funktion des Honan-Tempels mehr oder weniger übernommen. Durch die Zerstörung des Fukien-Tempels wurde dieser zur Wiege der sogenannten „südlichen ShaoLin-Syste-me“. Denn die entflohenen Mönche sorgten fleißig für die Verbreitung von südlichem ShaoLin-KungFu. Verstärkt lehrten sie nun ihre einst streng gehüteten Kampfkünste dem Volke, um es für den Kampf gegen die ungeliebte Regierung zu rüsten.
Die Geschichte des Hung Gar
Hung Gar wurde von einem Kräuterhändler namens Hung Hee Gung begründet. Hung Hee Gung hatte sich wegen politischer Verfolgung in den Fukien-Tempel geflüchtet. Dort wurde er persönlich vom Abt Chi Sim Sun Si unterrichtet, einem der bereits erwähnten Fünf Alten. Der Abt unterrichtete Hung Hee Gung das ursprüngliche ShaoLin-Tempelboxen, bis der Tempel angegriffen wurde und beide fliehen mussten. Als es nach zehn Jahren wieder erlaubt war Kampfkunst zu trainieren, eröffnete Hung Hee Gung eine Schule in der Provinz Kwangtung. Um der Verfolgung zu entgehen nannte Hung Hee Gung sein System nicht ShaoLin-KungFu, sondern Hung Gar. Es gibt verschiedene Ansichten, wie es ausgerechnet zum Namen Hung Gar kam. Unwahrscheinlich ist, dass sich Hung Gar vom Familiennamen Hung ableitete. Viele Hung Gar-Vertreter glauben, dass Hung Gar nach dem ersten Kaiser der Ming-Dynastie, nämlich Hung-Mo Chu benannt wurde. Häufig ist auch die Ansicht, dass sich Hung Gar von den „Hung Soan“ herleitet. Denn als Hung Hee Gung in Canton zuerst unterrichtete, tat er dies auf Hung Soan (Booten), die Theaterbühnen beherbergten. Mit dieser Theorie werden auch die äußerst tiefen Stellungen des Canton-Hung Gar begründet. Denn die ständig hin- und herschlingernden Boote erforderten absolut tiefe und feste Stellungen.

Die Geschicke von Hung Gar wurden von Hung Hee Gung in die Hände von Luk Ah Coy gegeben, einem weiteren ehemaligen Schüler von Abt Chi Sim Sun Si. Luk Ah Choys Nachfolger war Wong Tai und später dessen Sohn Wong Kay Ying. Der wiederum gab sein Wissen und Können weiter an seinen Sohn Wong Fei Hung. Wong Fei Hung machte Hung Gar berühmt. Er gilt in China als eine Art Volksheld, dessen Lebensgeschichte in Filmen und Büchern nacherzählt worden ist. Überhaupt erfreuen sich all diese Namen in China einer großen Popularität und das bis in die Gegenwart.
Es gab und gibt noch immer eine ganze Anzahl von südlichen Stilen mit großen Anhängerscharen. So z. B. die großen „Fünf Familien“-Stile von Kwangtung, sprich Hung Gar, Lau Gar, Choy Gar, Mok Gar und Lee Gar. Hinzu kommen die heute vor allem in Hongkong anzutreffenden Schulen für Bei Mei, Wing Chun, Drache, Choy Lee Fut, Fut Gar und Weißer Kranich, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Kein Stil aber erfreute sich über viele Generationen hinweg einer solchen Beliebtheit wie Hung Gar. Hung Gar gilt neben Hung Kuen als der direkteste Nachkomme des ursprünglichen Fukien-Tempelboxens und noch immer ist es das Hung Gar, mit dessen großer Kraft man sich nur zu gerne identifiziert.
Lum Sai Wing war der offizielle Erbe von Wong Fei Hung. Lum Sai Wing brachte Hung Gar in Hongkong zu einer großen Beliebtheit. Wegen seinen Unterrichtsmethoden, seinen Ansichten und seiner Modernität trifft der Begriff „Revolutionär“ durchaus auf ihn zu. Generell beginnt mit ihm eine Epoche besonderer Umgestaltung des Hung Gar, die sich über amerikanische Spitzenvertreter von Hung Gar wie SiFu Y. C. Wong und SiFu Kwong Wing Lam bis in die jüngste Gegenwart verfolgen lässt. Dies betrifft sowohl die Reorganisation des Trainingsinhaltes wie auch des Trainingsaufbaus. Lum Sai Wing gab die Kunst des Hung Gar weiter an Boxer wie Chiu Gao und Lum Jow. Die letzteren beiden schließlich waren die Lehrer von SiFu Kwong Wing Lam.
Über SiFu Kwong Wing Lam
Heute ist SiFu K. Wing Lam selbst eine herausragende Persönlichkeit unter den „amerikanischen“ KungFu-Meistern. Ein Grund dafür ist sicher seine Geübtheit in etwa 100 Formen. Eine Zahl, die sein Wissen und die Grundlage seiner Erfahrenheit anzudeuten vermag. Dazu muß man wissen, dass er weitere KungFu-Topleute aus China und Hongkong als Lehrer hatte. So z. B. Yim Sim Mo, der schon zu seinen Lebzeiten berühmt wurde für Tritte, Beinarbeit, seine Atemtechnik und seine eiserne Hand. Yim Sim Mo war der Nachfolger des großen Ku Yu Cheong und brachte nördliches ShaoLin-KungFu nach Südchina.

SiFu William Quan wurde als Kind chinesischer Einwanderer in San Francisco geboren. Über einen Freund kam er zu KungFu und wurde Schüler von K. Wing Lam. Unter seiner Anleitung wurde William Quand zu großem Interesse und Hingabe für KungFu ermutigt. Heute, nach 14 Jahren Kampfkunst-Erfahrung und trotz des ihm verliehenen Rechts, Süd-SilLum (Süd-ShaoLin-KungFu) unterrichten zu dürfen, ist er noch immer äußerst lernbegierig. Daher findet er regelmäßig Zeit, sich von seinem Lehrer weiter unterrichten und korrigieren zu lassen. Die bereitwilligen Auskünfte und die Mitarbeit von SiFu William Quan ermöglichten diesen Bericht.
Südliches ShaoLin-KungFu
Südliches ShaoLin-KungFu, oder Süd-SilLum, wie SiFu Quan sagt, könnte auch schlicht als Canton Hung Gar bezeichnet werden. Mit der Bezeichnung Hung Gar werden jedoch eigentlich nur wenige Formen festgelegt, die in allen Hung Gar-Schulen gelehrt werden. Davon läßt sich übrigens faktisch nur eine einzige Form eindeutig bis auf den Begründer von Hung Gar zurückführen. Dutzende der heute in Hung Gar-Schulen unterrichteten Formen entstammen nämlich verschiedensten anderen südlichen KungFu-Systemen, die wiederum teilweise schon gar nicht mehr existieren. Folgendes sind die Namen ursprünglicher und authentischer Hung Gar-Formen:
- Kung Gee Fook Fu (den Tiger überkommen),
- Fu Hok Seung Kuen (Tiger & Kranich),
- Sup Ying Kuen
(10 Teile Form – 5 Tiere, 5 Elemente), - Tit Sien Kuen (Eiserne Brückenarme),
- sowie je eine bestimmte Form für Schmetterlingsmesser und Stock.
Dies sind reine Hung Gar-Formen. Diese Formen geben Hung Gar seinen spezifischen Charakter, stellen seine Seele dar. Sie sind auch das Kriterium für wahres Canton Hung Gar der berühmten Lehrerlinie Hung Hee Gung, Wong Fei Hung und dessen Erben. Kann eine Hung Gar-Schule eine dieser elementarsten Hung Gar-Formen nicht vorweisen, so fehlt ihr bereits ein wesentlicher Bestandteil von Hung Gar. Zusätzlich gibt es noch viele, viele andere Formen im Hung Gar, die jedoch oft von Schule zu Schule variieren. Natürlich darf man Hung Gar nicht mit Hung Kuen verwechseln, das ausschließlich auf den fünf Tier-Systemen des ShaoLin-Boxens aufbaut.
So also basiert Süd-SilLum auf den berühmten Formen von Hung Gar, beinhaltet aber auch eine ganze Reihe wirklich seltener und „spezieller“ Formen, die im Laufe der Generationen übernommen wurden.
Süd-SilLum bedeutet Kraft
Nördliche ShaoLin-Stile erfordern Lockerheit, Flexibilität, Beweglichkeit und Grazie. Diese Stile entwickeln ihre Stärke überwiegend durch die Kontinuität von Bewegungen, die flüssig, schnell und ohne Unterbrechung sind.

Im Süd-SilLum hingegen wird die eigene Kraft entwickelt, indem man isotonische und isometrische Übungen ausnutzt. Wenn auch die Anwendung der Süd-SilLum-Techniken sehr flink ist, werden die Übungen selbst doch sehr langsam und unter großer Muskelanspannung trainiert. Es gibt nur wenige Tritt-Techniken im Süd-SilLum, welche für gewöhnlich nicht höher als Leistenhöhe ziehen.
Dem Vorankommen des Schülers im Süd-SilLum liegt die sogenannte „Pferdestellung“ zugrunde. Während nördliche ShaoLin-Stile es bevorzugen sich schnell zu bewegen, zu springen und hoch zu treten, tendiert Süd-SilLum zu tiefen, festen Stellungen und zum Gebrauch der Unterarme zum Kämpfen. Unter den südlichen Stilen ist Hung Gar ohne Zweifel am berühmtesten für fest verwurzelte Stellungen. Sprichwörter sagen, dass ein Hung Gar-Meister derart fest am Boden „klebt“, dass man ihn absolut unmöglich bewegen, ja nicht einmal schütteln kann. Auch im Süd-SilLum wird die für das Canton Hung Gar bekannte, tiefe Pferdestellung angewandt. In vielen Kinofilmen und Geschichten werden oft die rigorosen und manchmal brutalen Prozeduren beschrieben, mit denen tiefe Stellungen erzwungen wurden. Da sich sowohl die Menschen als auch die Notwendigkeit und die Ziele von Kung Fu verschoben haben, wandelte sich auch das Training der Stellungen. In heutigen Gesellschaftsformen besteht eindeutig keine Notwendigkeit mehr für brutales Training von tiefen Pferdestellungen. Lediglich einige wenige Systeme, die nur mit tiefen Stellungen funktionsfähig sind, verlangen noch immer ein gewisses Maß an tiefen Stellungen.
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