Der Prophet gilt wenig im eigenen Land
Wing Tsun-Großmeister Leung Ting aus Hongkong ist ein Weltreisender in Sachen chinesischer Kampfkunst. In dem nachfolgenden Kampfkunst Interview berichtet der Großmeister u.a. über die Entstehung seines Systems und dessen Aufbau in Europa.

„Wenn man in den Terminkalender der EWTO schaut, dann hat man den Eindruck, dass Sie fast ständig auf Schloß Langenzell weilen?“
Leung Ting: „In den letzten Jahren war ich jeweils 3 Monate pro Jahr bei meinem Meisterschüler Dai-Sifu Keith R. Kernspecht in Europa. Wir machen gemeinsame Lehrgänge in Deutschland, aber auch in Italien, Österreich, der Schweiz und in Dänemark. Keith lädt mich seit 1975 regelmäßig ein.“
„Das sind über 20 Jahre. Sind die Deutschen etwas langsam im Lernen oder haben Sie so viel zu bieten?“
L.T.: „Die Deutschen – namentlich Keith Kernspecht und seine Schüler – sind sehr, sehr wissbegierig. Sie wollen alles, aber auch alles wissen. Und nicht nur die Technik, sondern auch die Philosophie, die spezifische Pädagogik. Viele von ihnen studieren deshalb eigens unsere chinesische Sprache, die viel über unsere ganz andere Denkweise verrät. Keith selbst hat sich mit deutscher Akribie auf chinesische Philosophie und Pädagogik „gestürzt“ – was nahezu identisch ist – und wird seit einiger Zeit auch als Gastprofessor an ausländische Universitäten gerufen, an denen er über die klassische chinesische Philosophie und deren Manifestation in den Kampfkünsten spricht.“
„Der Kreis scheint sich geschlossen zu haben, denn unser Reporter – damals Geert Lemmens – lernte Herrn Kernspecht und Sie – zuerst an der Kieler Universität persönlich kennen, als Sie beide dort mit Ihren ersten deutschen Schülern eine 5stündige WingTsun-Vorführung im Audimax gaben.“
L.T.: „Ja, das war 1976. Keith hatte ca. 1970 in London mit Wing Chun begonnen, das er als einer der ersten zwei oder drei Europäer von Cheng Chung Sifu erlernte. Cheng Sifu gab ihm dann meine Adresse in Hongkong, und wir kamen dann direkt in Kontakt. Damals war Keith Lehrer an der Oberschule und Lehrbeauftragter der Philosophischen Fakultät der Universität Kiel. Kurioserweise war der Rektor der Universität nicht nur sein Mentor, sondern auch sein To-dai, sein Kung-Fu-Schüler. Sifu Kernspecht hat meiner Meinung nach eine einzigartige Gabe, Menschen jeder Profession mit seiner eigenen Begeisterung anzustecken, ohne durch missionarischen Übereifer die Leute abzuschrecken – und das innerhalb von Minuten. Er ist total locker und kommt mit jedem zurecht, weil er natürlich und menschlich ist und alle Meinungen gelten lässt. Und vor ein paar Wochen hat er kaum seine Antrittsvorlesung gehalten, so wurde auch schon der Rektor der ausländischen Uni sein WingTsun-Schüler.“
„Vielleicht sollte Herr Kernspecht sich clonen lassen, dann hätten sie mehr von seiner Sorte, um überall auf der Welt WingTsun verbreiten zu können.“
„Ohne jede Geheimniskrämerei“
L.T.: „Keith produziert das feinste Lehrermaterial, das ich mir wünschen könnte – und das beinahe wie am Fließband. Seine Kampfkunst-Akademie – sie verdient wirklich diese Bezeichnung – ist für mich einzigartig in der westlichen und östlichen Welt. Keith hat den 9. Meistergrad unseres Weltverbandes. Er schult persönlich alle Lehrer und Ausbilder, praktisch und theoretisch.

In Deutschland sind das alleine über zweitausend Ausbilder. Drei handverlesene selbständige Lehrer – Andreas Groß (4. Grad WT), Heinrich Pfaff (4. Grad WT) und. Bernd Wagner (3. Grad WT) – unterrichten im Schloss 6 Tage die Woche 8 Unterrichtsstunden täglich. Ohne jede Geheimnis-Krämerei – die man uns Asiaten so gerne nachsagt, weil man unsere Pädagogik nicht versteht.“
„Haben Sie es im Ausland auch gerne mit deutschen WT-Vertretern zu tun?“
„Kompetenz hat nichts mit der Nationalität zu tun. “
L.T.: „Das Entscheidende ist nicht die Nationalität, sondern die Schulung, die dadurch geschaffene Zuverlässigkeit und Qualität. Mit der Ausnahme von Ungarn und Polen gingen alle europäischen WT-Nationaltrainer durch die deutsche Schule. Filippo Cuciuffo In Italien, Sepp Schembri in der Schweiz, Oliver König und Robert Vent in Österreich, Viclor Gutierrez in Spanien und Portugal, Salih Avci in der Türkei, Tassos in Griechenland und Hans Olbers in Frankreich. Aber auch unsere Vertreter in den Beneluxländern, in Großbritannien, in Skandinavien und in Osteuropa.“
„Und wie sieht es in den USA und Australien aus?“
L.T.: „Auch da ist eine „Invasion“ von EWTO-Lehrern erfolgt. Kernspechts Meisterschüler Emin Boztepe leitet für uns z.B. das WT in den USA, weitere hochkarätige Schüler von Keith bewegen eine Menge in Südamerika – vor allem Brasilien – und in Australien. Hoffentlich habe ich keinen Nationaltrainervergessen, der jetzt traurig ist.“
„Wie steht es mit dem Leung Ting Wing Tsun lmperium in Asien?“
„Der Prophet gilt wenig im eigenen Land“
L.T.: „Bekanntlich gilt der Prophet wenig im eigenen Land. Dennoch erfreuen sich die Leung Ting-Schulen in Hongkong guten Zulaufs, obwohl ich selbst nicht unterrichte.
Es ist mir gelungen, Wing Tsun in seinem Ursprungsland wieder Ansehen zu verschaffen.
In der VR China hat man jetzt erkannt, daß ein realistischer Kung Fu-Stil wie WingTsun ihnen endlich bessere Chancen im Freikampf gibt, nachdem der italienische WT-Kämpfer Stefano Ricci als einziger Kung Fu-Stilist sich gegen die russischen Ringer durchsetzen konnte. Vor kurzem hat mich die mit 6. 000 Mitgliedern wohl größte Kampf-kunst-Schule Chinas zu einem mehrtägigen Einführungs-Lehrgang geladen, an dem ca. 1.000 Ausbilder und Schüler teilnahmen. Ich nahm übrigens als Assistenten Sifu Kernspechts Schüler Oliver König (Wien), Sepp Schembri (Küsnacht) und Roland Liebscher-Bracht (Frankfurt) mit, die sogar die europäische Form des Lat-Sao den Chinesen beibrachten.

In Thailand werden wir im nächsten Jahr, wahrscheinlich Ende Februar, eine kombinierte Wing Tsun-/Thaibox-Lehrgangs-Reise mit Teilnehmern aus Europa und Australien durchführen. Keith, der früher selbst von seinem Freund Sun-thus Supasturpong Muay Thai und Ling Lum geernt hat, hat mehrere Schulen, die WT und Thaiboxen parallel betreiben.“
„Sehen Sie das gerne: Eine Vermischung von Wing Tsun und Thai boxen?“
„Wir pflegen internationale Freundschaften“
L.T.: „Eine Vermischung findet nicht statt! Wohl aber pflegen wir internationale gute Freundschaften zu anderen Stilen, u.a. mit Karate, Ju-Jutsu und natürlich mit Escrima. Wing Tsun und Thaiboxen sind eng verwandt. Beide Stile sind wahrscheinlich zwischen Yunnan und Szechuan in China entstanden. Wing Tsun (WT) ist eine reine Selbstverteidigung geblieben und Thai-Boxen ein faszinierender Kampfsport. Da gibt es keine Konkurrenz, aber jede Menge Sympathie und Verständnis für den anderen.“
„Sie sind diesmal in Begleitung von Prof. Chu gekommen, dem Experten für Chi-Gung,Taoismus, Feng Shui und langes Leben überhaupt? Tat man so etwas bisher in der EWTO nicht als Spinnerei ab?“
L.T.: „Durchaus nicht. Wir haben uns nur immer wieder gegen jede Übertreibung und gegen die Behauptung übermenschlicher kampfrelevanter sog. Chi-Kräfte gewandt. Und dies tun wir nach wie vor. Denn WingTsun ist eine realistische Selbstverteidigung, und wir wollen uns und unseren Schülern nichts vormachen.“
„Unterrichtet Prof. Chu die EWTO-Schüler?“
L.T.: „Ja, in Taoismus, Ernährung und allgemeiner Gesundheitslehre, aber auch in Feng Shui und wissenschaftliche Charakter- und Gesundheitserkennung aufgrund der Betrachtung des Gesichtes und des Körpers.“
„Gibt es dafür in Europa eine Nachfrage?“
L.T.: „Ja, mit Überraschung und mit Freude habe ich fest-gestellt, dass in der EWTO ein besonderes Interesse besteht, mehr über die klassischen Bildungsinhalte Chinas zu erfahren. Und seit zwanzig Jahren gilt in der EWTO die Praxis, dass jeder WT-Lehrergrad zu seiner praktischen Prüfung eine theoretische Prüfung über Themen wie Taoismus, Buddhismus, Konfuzianismus, über chinesische Strategien oder über asiatische Geschichte usw. ablegen muss. Dazu gehört auch eine schriftliche Arbeit von 8 bis 50 Seiten und mehr, je nach erstrebtem Grad.“
„Wie ist der Frauenanteil im Wing Tsun?“
„Es gibt immer mehr kampfstarke Frauen“
L.T.: „Wie sie wissen, ist Wing Tsun der Name der Frau, die den Stil konzipiert hat. Deshalb freue Ich mich besonders, dass es in der EWTO schon einige, aber immer noch zu wenige WT-Schulen gibt, in denen bis zu 50% Frauen trainieren. Aber leider überwiegen immer noch die Männer. Allerdings habe ich einige besonders kampfstarke und selbstbewusste WingTsun-Frauen auf Lehrgängen gesehen, die für die Zukunft viel erwarten lassen!“
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